Schwerpunkt Interview

„Deeptechs können viele Probleme dieser Zeit lösen“

Merantix hat einen Campus für künstliche Intelligenz aufgebaut und will nun Start-ups groß herausbringen. Für Co-Gründer Adrian Locher ist Berlin der beste Platz dafür.
Adrian Locher ist sich sicher, dass künstliche Intelligenz (KI) die wichtigste Technologie dieses Jahrhunderts sein wird und einen wesentlichen Anteil an der Lösung der ganz großen globalen Herausforderungen haben wird – so zum Beispiel im Klimaschutz oder bei der Bewältigung des demografischen Wandels. Deshalb gründete er 2016 das KI Venture Studio Merantix. Nach dem Umzug in den selbst entwickelten 5.300 Quadratmeter großen Campus im Ortsteil Gesundbrunnen im vergangenen Jahr will er mit seinen mehr als 150 Mitarbeitenden jetzt durchstarten.

Berliner Wirtschaft: Sie arbeiten mit ­150 Mitarbeitern auf 5.300 Quadratmetern. Das spricht für große Expansionspläne.

Adrian Locher: Sie haben die Zahl der Mitarbeitenden genannt, die für Merantix direkt und für die sieben Start-ups tätig sind, an denen wir beteiligt sind. Dazu kommen aber noch die Konzerne, Mittelständler, Start-ups, Forschungseinrichtungen, Investoren und staatlichen Stellen, die sich in unserem Merantix AI Campus Berlin eingemietet haben. Insgesamt sind jetzt 80 Teams mit insgesamt 600 Mitarbeitenden hier tätig. Was Merantix anbelangt, ist klar: Wir haben ehrgeizige Wachstumspläne. Bis Ende des Jahres sollen fünf weitere Start-ups gegründet werden.

Selbst staatliche Stellen mieten sich ein?

Wir sind hier eine sehr breite Gruppe, welcher unter anderem auch staatliche Institutionen wie der Govtech Campus, Science & Startups oder Berlin Partner beiwohnen. Gemeinsam haben alle, dass sie im Bereich Machine Learning unterwegs sind und die Nähe zu anderen KI-Expertinnen und -Experten suchen. Wir haben uns aber von Anfang an als hybrides Unternehmen aufgestellt. Es ist auch normal, dass nicht immer alle hier sind, sondern zu Hause oder an anderen Standorten arbeiten. Aber im Campus haben alle ihre Homebase, an der sie sich sehen und austauschen können. Nähe ist wichtig für Deeptech-Start-ups.

Ist Ihnen das hybride Arbeiten in die Wiege gelegt worden? Der Campus wurde schließlich während der Pandemie gebaut und bezogen.

Ja, das stimmt. Aber die Idee vom hybriden Arbeiten hatten wir schon vorher. Wir haben uns sehr bewusst 2019 diese Fläche gesichert, auf der wir die Arbeit der Zukunft abbilden wollten. Dann kam Corona, und wir mussten tief durchatmen und uns fragen, ob wir einen Fehler machen. Glücklicherweise spielten unsere Baupläne, welche auf hybrides Arbeiten ausgelegt waren, uns dabei in die Hände. So haben wir es geschafft, in einer Zeit, in der der Büroflächenmarkt mit Angeboten überhäuft wurde, unsere Fläche innerhalb kürzester Zeit komplett zu vermieten. Heute sind wir sehr glücklich mit den Räumlichkeiten, die wir haben. Sie sind so konzipiert, dass wir Menschen wirklich zusammenbringen können.

Warum ist Ihnen das so wichtig?

Ich glaube, das ist ein ganz zentraler Punkt für das Funktionieren eines Ökosystems. Wir beschäftigen dafür sogar zwei Campus-Managerinnen, die gezielt Teams zusammenbringen und Events organisieren – wobei wir inzwischen oft nur noch die Plattform anbieten. Die meisten Events werden von Mietern selbst organisiert. Teilweise finden hier zwei oder drei Events pro Tag statt. Der Austausch zum Thema KI ist das verbindende Element – für die praktische Anwendung bis hin zur Spitzenforschung.

Was war Ihre Idee, als Sie Merantix gegründet haben?

Ich habe schon in meinem Heimatland, der Schweiz, ein Start-up aufgebaut und verkauft. Danach bin ich nach San Francisco gezogen, um mich neu zu orientieren. Dabei empfand ich vor allem das Umfeld von Elon Musk sehr inspirierend. Ich habe gesehen, wie groß die Bedeutung der künstlichen Intelligenz bei all seinen Plänen ist. Also wollte ich gern im Bereich KI etwas Neues aufbauen.

Warum sind Sie für die Gründung nach Berlin gekommen?

KI ist die wichtigste Technologie dieser Zeit, aber Europa hat einen großen Rückstand auf die USA und China. Ich möchte, dass wir mit Europa den Zug nicht verpassen. Wir müssen dafür weltweit nach den besten Leuten suchen. KI-Start-ups müssen also dort gegründet werden, wo Talente gern leben möchten. Wir haben uns viele Städte in Europa angeschaut und gemerkt, dass nur Berlin und London so kosmopolitisch sind, dass Menschen aus der ganzen Welt einfach zu integrieren sind. Die Lebensqualität, auch im Verhältnis zu den Kosten, ist in Berlin am höchsten.

Wie schwer ist es, KI-Experten zu finden?

Wir haben das Problem gelöst und uns hier in Berlin einen guten Ruf erarbeitet. Die Attraktivität der Stadt kommt uns tatsächlich sehr entgegen. Für eine Neueinstellung sehen wir uns ungefähr 50 Bewerberinnen oder Bewerber an. Mehr als die Hälfte der Bewerbungen kommt aus dem Ausland. Mittlerweile beschäftigen wir Menschen mit 30 verschiedenen Nationalitäten. Talente wollen immer dort arbeiten, wo viele andere Talente schon sind, weil sie den Austausch suchen und lernen möchten.

Glauben Sie, dass Europa tatsächlich den Rückstand zu den USA und China aufholen kann?

Ja, weil wir hier eigentlich alles haben, was man dafür braucht. In der Forschung sind wir sogar führend. Gemessen an der Anzahl der Einwohner, hat Deutschland mehr KI-Forscherinnen und -Forscher als die USA und China zusammen. Aber bei den Investitionen für die Umsetzung liegt Europa bei einem Zehntel der Ausgaben, die in den USA getätigt werden. Deshalb suchen wir hier am Campus die Nähe zur Forschung und entwickeln unsere Fähigkeiten, die Ideen wachsen zu lassen.

Oft werden erfolgreiche Start-ups zwar in Deutschland gegründet. Die Finanzierung kommt aber aus Amerika oder aus Asien, sodass am ­Ende doch keine deutschen Unternehmen dabei entstehen. Sehen Sie darin ein Problem?

Ja, darin sehe ich eine riesige Herausforderung. Langfristig geht die Wertschöpfung dorthin, wo das Geld herkommt. Für die großen Finanzierungsrunden in den späteren Entwicklungsphasen ist derzeit nur in den USA genug Geld zu bekommen. Für die frühen Phasen ist der Appetit der institutionellen Anleger in Europa noch sehr gering. Ich wünsche mir in Deutschland eine Industriepolitik, die Technologie stärker fördert – durch Investitionen und dadurch, dass institutionellen Anlegern Risikoinvestments erleichtert werden.

Ist es derzeit angesichts der großen Unsicher­heiten in der Wirtschaft schwieriger geworden, Risikokapital für Start-ups zu bekommen?

Auf jeden Fall. Ich glaube, es wird auch noch ein paar Monate so bleiben. Es gab einen Schock im System durch den Krieg und aufgrund der vielen Lieferengpässe. Die Situation ist vergleichbar mit dem Beginn der Pandemie im März 2020: Es wird erst einmal alles gestoppt, um sich zu orientieren. Sobald die Investoren wissen, womit sie es zu tun haben, geht es weiter. Das Geld ist da, der Appetit der Investoren auch. Aber um ehrlich zu sein: Wir haben in den vergangenen zwei Jahren bei den Bewertungen von Start-ups einen ungesunden Hype gesehen. Das wird jetzt gerade korrigiert.

Warum haben Sie selbst kein einzelnes Unternehmen gegründet, sondern ein Venture Studio?

Da spielen meine Erfahrungen mit meinem ersten Unternehmen „DeinDeal“ hinein. Aus diesem Start-up mit 200 Mitarbeitern sind 30 weitere Unternehmen entstanden. Ich habe Leute geholt, die eigentlich selbst ein Start-up gründen wollten, zunächst aber für ein bis zwei Jahre Erfahrungen in einem schnell wachsenden Unternehmen suchten. Das waren sehr motivierte Menschen, mit denen ich sehr eng und gut zusammengearbeitet habe, bevor sie tatsächlich selbst gegründet haben. Dabei habe ich gemerkt, was mir am meisten Spaß macht: das Zusammenbringen der richtigen Leute mit den richtigen Ideen.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie Start-ups gründen?

Wir starten ganz am Anfang – mit der Idee. Die kommen aus drei verschiedenen Quellen. Die erste Quelle sind Gründerinnen und Gründer, die an uns herantreten. Die zweite Quelle sind wir selbst mit unserem Team, das ständig neue Ideen entwickelt. Die dritte Quelle ist unser Tochterunternehmen Merantix Momentum, das als Dienstleister Beratungs- und Projektaufträge von Unternehmen annimmt oder in Forschungsprojekte involviert ist. Auch dabei können Ideen für die Gründung eines Start-ups entstehen.

Gibt es bestimmte Branchen, in denen Sie schwerpunktmäßig tätig werden?

Wir haben Kontakt zu sehr vielen unterschiedlichen Branchen: Medizintechnik, Biotech, Autoindustrie, Maschinenbau, Chemie zum Beispiel. Auch unsere eigenen Start-ups sind in verschiedenen Feldern tätig. Sia Search entwickelt Systeme für das autonome Fahren. Vara will Brustkrebs-Screenings auch für Entwicklungs- und Schwellenländer erschwinglich machen. Cambrium sucht nach synthetischen Proteinen, aus denen neue nachhaltige Materialen gefertigt werden können.

Wie gut ist der KI-Standort Berlin bisher aufgestellt?

Wir arbeiten mit der TU, der HU und dem Hasso-Plattner-Institut zusammen. Das ist uns wichig.  Sehr viel deutsche KI-Spitzenforschung findet in München, Darmstadt, Karlsruhe oder Tübingen statt. Wir müssen aber global denken, wenn wir Technologie schaffen wollen, die einen großen, positiven Einfluss auf diese Welt haben wird. Deeptechs können viele Probleme dieser Zeit lösen. Der Fachkräftemangel schreit geradezu nach Automation.
von Michael Gneuss